Türkei
Nachdem
1990 mein Reiseführer über die Türkei erschienen
ist, hatte sich eine junge, türkisch-stämmige Leserin
aufgeregt und mich erbost angeschrieben. |
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Was war geschehen? Ich hatte an einer Stelle des Buches die Türkei
als muslimisches Land bezeichnet. Zugegebenermaßen war diese
Bezeichnung politisch nicht korrekt, denn in der türkischen
Verfassung ist seit Atatürk der Laizismus verankert. Allerdings
entsprach die Bezeichnung dem Eindruck, die ich als junger Autor
durch meine bis dahin erfolgten Reisen durch die Türkei gewonnen
hatte.
Heute
würde sich über die Behauptung, die Türkei sei
ein islamisches Land, kaum noch jemand aufregen, obwohl die Verfassung
noch die gleiche ist. Das Beispiel zeigt, wie sich die Türkei
seit Jahrzehnten in einem permanenten Umbruch befindet. Nach dem
Militärputsch 1980 haben sich die verschiedenen Regierungen
ans Werk gemacht, das Land in unterschiedlichste Richtungen zu
entwickeln. Der wirtschaftsliberale Regierungschef Turgut Özal
kurbelte den Massentourismus an. Tansu Ciller war die Frau im
Ministerpräsidentenamt, musste sich aber mit Korruptionsvorwürfen
auseinandersetzen.
Der
heutige Staatschef Recep Tayyip Erdogan gab der frommen Landbevölkerung
eine politische Stimme. Er schaffte so etwas wie eine Mittelschicht,
die es bis dahin nicht gab, ermöglichte Arbeitern eine Wohnung
und ein Auto zu kaufen – wenn auch auf Pump. Gläubige
Muslime rieben sich verwundert die Augen, als Erdogan vormachte,
dass für ihn Islam und Kapitalismus keine Gegensätze
sind. Seine neoliberale Politik wurde begleitet von neo-osmanischen
Großmachtphantasien. Das gab vielen Türken ein neues
Selbstbewusstsein und leistete dem Nationalismus Vorschub. Trotzdem
ist Erdogan derjenige Regierungschef, der die meisten pro-europäischen
Reformen voranbrachte. Lange Zeit schaute ihm dabei das Militär
kritisch über die Schulter, bis es Erdogan gelang, beklatscht
von den Europäern, die Generäle von der politischen
Bühne zurück in die Kasernen zu verweisen.
Allerdings machte Erdogan als Ministerpräsident die Fortschritte
bei den Beitrittsverhandlungen zur EU meist selbst wieder zunichte,
in dem er Regierungskritiker ins Gefängnis brachte, mit Polizeistaffeln
in Zeitungsredaktionen einfiel und die Proteste im Istanbuler
Gezi-Park für Demokratie und individuelle Freiheiten 2013
gewaltsam niederschlagen ließ. Spätestens seit Erdogan
2014 der erste vom Volk gewählte Staatspräsident ist,
haben viele junge und moderne Türken resigniert. In einer
Gesellschaft, die immer konservativer und islamischer zu werden
scheint, sehen sie ihre Freiheiten und individuellen Entwicklungsmöglichkeiten
bedroht.
Dennoch ist Europa und eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen
Union bis heute immer noch offizielles Ziel auch der aktuellen
Regierung. Wenn auch das Bekenntnis zu Europa in der letzten Zeit
ein wenig heruntergeleiert wirkt, so wie der Gebetsruf eines Muezzins,
der verschlafen hat.
Die derzeitige Regierung nimmt Europa nicht mehr so wichtig. Für
diejenigen Türken, die mit Erdogans Kurs nicht einverstanden
sind, ist Europa aber nach wie vor ein Werteideal und ein Nachbar,
von dem sie hoffen, er möge den eigenen Hausherrn hier und
da zur Räson bringen.
Andererseits ist die Türkei für Europa nicht nur ein
schwieriger Nachbar, ein Wirtschaftspartner und bedeutender Absatzmarkt.
Mit seiner Scharnierfunktion zwischen Europa und Asien ist der
Nato-Partner Türkei eine geostrategische Größe.
Europa kann sich deshalb nicht leisten kann, dass dieses Land
aus dem Ruder läuft. Ganz abgesehen davon ist die Türkei
das Herkunftsland zahlreicher Muslime, die in der EU leben. Die
Türkei zu verstehen, kann auch dazu beitragen, das Zusammenleben
in den europäischen Städten zu verbessern.
Während der letzten fast drei Jahrzehnte haben mir zahlreiche
Reisen durch das Land geholfen, die Türkei zu verstehen.
Sei es mit dem Fahrrad, zu Fuß mit dem Rucksack im Taurusgebirge,
mit Bussen und überfüllten Sammeltaxen oder mit dem
Auto. Auf vielen Kilometern erfuhr ich ein faszinierendes Land
voller Schönheiten und Gegensätze. Überall anzutreffen
waren herzliche Menschen, egal ob sie gläubige Muslime, glühende
Atatürk-Anhänger oder stolze Kurden waren – sie
alle haben es verdient, dass ihre Geschichten erzählt werden.